Es ist noch ein weiter Weg, bis Konsumenten aktiver einbezogen sind

In einer Schweizer Confiserie werden Schokolade und Nüsse verarbeitet.

Konsumenten werden hervorgehoben und konsultiert, aber ihr Einfluss auf die Regulierung des Ernährungssystems bleibt begrenzt.

Welche Entwicklungen haben die Lebensmittelversorgung in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten geprägt? Welchen Statuts hat die Ernährung in der Gesellschaft und wer entscheidet, wie unser Ernährungssystem aussehen soll? Eine Forschungsgruppe der Universität Lausanne und von Agridea ging diesen Fragen im Rahmen des NFP 69 nach. Resultate aus ihrem Projekt "Konsumentenmitsprache" publizierten sie im Frühling 2018 im Buch "Manger suisse. Qui décide?". Dr. Rémi Schweizer, Experte für Politikanalyse, gibt Einblicke in einige der wichtigsten Ergebnisse.

Sie haben in ihrem Buch die Entwicklung des Schweizer Lebensmittelsektors in den letzten Jahrzehnten untersucht. Welche Entwicklung stellten Sie fest?

Rémi Schweizer: Die Nachfrage der Konsumentinnen und Konsumenten nach lokalen und ökologisch hergestellten Lebensmitteln sowie die Zahlungsbereitschaft dafür sind in den letzten Jahrzehnten gestiegen. Auch das Angebot hat sich angepasst, mit verschiedenen Labels und Marken, die Swissness oder ökologischere Produktionsmethoden in den Vordergrund stellen. Wir wollten verstehen, welche Rolle die Konsumierenden bei der Entwicklung und bei den staatlichen Rahmenbedingungen für diese Labels spielten.

In Ihrem Buch sprechen Sie von einer Politisierung der Nahrungsmittel. Wie ist das zu verstehen?

Wir stellen fest, dass die Ernährung zunehmend zu einer öffentlichen Angelegenheit wird und Gegenstand von zunehmend polarisierten politischen Diskussionen ist. Davon zeugen zum Beispiel mehrere Volksinitiativen, mit denen verschiedene Parteien und Interessenverbände in jüngster Zeit versuchen, unser Ernährungssystem zu beeinflussen. Das verdeutlicht, dass der Übergang zu nachhaltigeren Ernährungssystemen nicht nur eine Frage der Technik und des persönlichen Verhaltens ist, sondern auch eine politische Frage.

Sie untersuchten die Entscheidungsprozesse, die hinter dem heutigen Ernährungssystem stecken. Welche Akteure haben diese Prozesse geprägt?

Es gibt vier zentrale Akteure, welche die Entscheidungsprozesse im Bereich Ernährung prägen: die Produzenten, die Lebensmittelverarbeiter, die Verteiler und die Konsumenten. Die Allianzen und Gleichgewichte zwischen diesen zentralen Gruppen verschieben sich ständig, je nach wirtschaftlichen Interessen und unterschiedlichen Wertehaltungen. Unsere Forschung zeigt aber, dass die Konsumenten nicht immer ein Mitspracherecht haben. Sie bringen neue Impulse und Vorschläge, sie werden hervorgehoben und konsultiert; aber sie sind nur passiv beteiligt, wenn wichtige politische oder wirtschaftliche Entscheidungen getroffen werden. Das ist ein Paradox, weil die Rolle der Konsumenten in der wissenschaftlichen Literatur, in den Medien und in der öffentlichen Wahrnehmung gerne in den Vordergrund gerückt wird.

Sehen Sie Möglichkeiten, wie die Konsumentenmitsprache verbessert werden könnte?

Das Gewicht der Konsumierenden in den Entscheidungsprozessen könnte zum Beispiel vergrössert werden, indem das Beschwerderecht auf Organisationen des Konsumentenschutzes ausgedehnt oder das Einreichen von Sammelklagen zugelassen wird. Oder indem Konsumentenorganisationen verstärkt in öffentliche Aufgaben wie Lebensmittelkontrollen oder in die Steuerorgane bestimmter Labels einbezogen würden. Ausserdem könnte eine bessere und einheitlichere Information über Herkunft und Umweltwirkungen von Lebensmitteln dazu beitragen, dass die Konsumenten das Ernährungssystem mit ihren Entscheiden bewusster mitgestalten können.